Der EuGH hat sein Urteil zu Identitätskontrollen nach dem deutschen Bundespolizeigesetz in der Nähe von Schengen-Binnengrenzen, in Zügen oder an Bahnhöfen verkündet.

Am 01.04.2014 überquerte A. zu Fuß die Europabrücke von Straßburg (Frankreich) nach Kehl (Deutschland) und begab sich unmittelbar zum etwa 500 m entfernten Bahnhof der Deutschen Bahn AG. Zwei Beamte einer Streife der deutschen Bundespolizei beobachteten ihn vom Bahnhofsvorplatz aus. Auf der Grundlage des § 23 Abs. 1 Nr. 3 des Bundespolizeigesetzes (BPolG) unterzogen sie ihn einer Identitätskontrolle. Da A. sich der Kontrolle gewaltsam widersetzte, wurde ihm Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte gemäß § 113 Abs. 1 StGB zur Last gelegt.

Nach Ansicht des AG Kehl ist der Tatbestand des Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte erfüllt und A. zu bestrafen, sofern die von den Polizeibeamten in Ausübung ihres Amtes vorgenommenen Handlungen rechtmäßig seien. Nach § 23 Abs. 1 Nr. 3 oder § 22 Abs. 1a BPolG wäre die Kontrolle der Identität von A. durch die Beamten der Bundespolizei zulässig. Das Amtsgericht hat jedoch Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit dieser Bestimmungen mit dem vorrangig anzuwendenden Unionsrecht. Es nimmt insoweit auf das Urteil vom 22.06.2010 (C-188/10 und C-189/10 "Melki und Abdeli) Bezug. Sollten diese Zweifel berechtigt sein, wäre nach seinen Ausführungen der Versuch von A., sich der Feststellung seiner Identität mit Gewalt zu entziehen, nicht nach § 113 StGB strafbar.
Unter diesen Umständen hat das Amtsgericht dem EuGH zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt.

Der EuGH hat dem AG Kehl wie folgt geantwortet:

1. Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung (EG) Nr. 562/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.03.2006 über einen Gemeinschaftskodex für das Überschreiten der Grenzen durch Personen (Schengener Grenzkodex) in der durch die Verordnung (EU) Nr. 610/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 geänderten Fassung seien dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats die Befugnis einräume, innerhalb eines Gebiets von 30 km ab der Landgrenze dieses Mitgliedstaats zu anderen Vertragsstaaten des am 19.06.1990 in Schengen (Luxemburg) unterzeichneten Übereinkommens zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14.06.1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen zur Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaates oder unerlaubten Aufenthalts in diesem Hoheitsgebiet oder zur Verhütung bestimmter Straftaten, die gegen die Sicherheit der Grenze gerichtet sind, die Identität jeder Person unabhängig von deren Verhalten und vom Vorliegen besonderer Umstände zu kontrollieren, entgegenstehen, es sei denn diese Regelung gebe den erforderlichen Rahmen für die besagte Befugnis vor, der gewährleiste, dass deren praktische Ausübung nicht die gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen haben kann, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts sei.

2. Art. 67 Abs. 2 AEUV sowie die Art. 20 und 21 der Verordnung Nr. 562/2006 in der durch die Verordnung Nr. 610/2013 geänderten Fassung seien dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die den Polizeibehörden des betreffenden Mitgliedstaats gestattet, in Zügen und auf dem Gebiet der Bahnanlagen der Eisenbahnen dieses Mitgliedstaates jede Person einer Kontrolle ihrer Identität oder ihrer Grenzübertrittspapiere zu unterziehen und sie zu diesem Zweck kurzzeitig anzuhalten und zu befragen, wenn diese Kontrollen auf Lageerkenntnissen oder grenzpolizeilicher Erfahrung beruhen, nicht entgegenstehen, sofern die Durchführung der Kontrollen im nationalen Recht Konkretisierungen und Einschränkungen unterliege, die die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der Kontrollen bestimmen, was zu prüfen Sache des vorlegenden Gerichts sei.

zu 1.: Im Rahmen der Beantwortung der ersten Frage hat der EuGH zu § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG u.a. ausgeführt, dass die danach vorgenommenen Kontrollen in einem Grenzgebiet in einem Umkreis von 30 km durchgeführt werden können, ohne dass in dieser Bestimmung irgendeine Konkretisierung oder Einschränkung vorgesehen wäre.

Unter diesen Umständen sei festzustellen, dass die mit § 23 Abs. 1 Nr. 3 BPolG verliehenen Befugnisse in einen Rechtsrahmen eingefasst sein müssen, der den im Urteil (unter Rn. 38 bis 41) genannten Anforderungen entspreche. Fehlten im nationalen Recht solche – selbst hinreichend genauen und detaillierten – Konkretisierungen oder Einschränkungen zur Lenkung der Intensität, der Häufigkeit und der Selektivität der Kontrollen, sei nämlich nicht auszuschließen, dass die praktische Ausübung der vom deutschen Recht eingeräumten polizeilichen Befugnisse unter Verstoß gegen Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zu Kontrollen führe, die eine gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten.

Es sei Sache des AG Kehl zum einen festzustellen, ob weitere Bestimmungen des nationalen Rechts, die die Bundesregierung im vorliegenden Verfahren angeführt habe, zu der für den hiesigen Sachverhalt maßgeblichen Zeit in Kraft waren, und zum anderen zu prüfen, ob sie für die gemäß dem Bundespolizeigesetz durchgeführten Kontrollen einen Rahmen vorsähen, wie er von der Rechtsprechung des EuGH gefordert werde, damit solche Kontrollen nicht als Kontrollen mit gleicher Wirkung wie eine Grenzübertrittskontrolle angesehen werden könnten.

Fehle ein solcher Rahmen in der nationalen Regelung, könnte nicht davon ausgegangen werden, dass die besagten Kontrollen, wie es Art. 21 Buchst. a Ziff. iii und iv der Verordnung Nr. 562/2006 verlange, zum einen selektiv stattfänden und damit nicht den systematischen Charakter von Grenzübertrittskontrollen aufwiesen und zum anderen polizeiliche Maßnahmen darstellten, die auf der Grundlage von Stichproben zur Anwendung kämen.

zu 2.: Im Rahmen der Beantwortung der zweiten Frage hat der EuGH zu § 22 Abs. 1a BPolG betreffend Identitätskontrollen in Zügen und an Bahnhöfen u.a. ausgeführt, dass sich ein Indiz für eine mögliche gleiche Wirkung wie eine Grenzübertrittskontrolle in dem mit den Kontrollen nach dieser Vorschrift verfolgten Ziel finde, das sich insbesondere insoweit nicht von den mit den Grenzübertrittskontrollen verfolgten Zielen unterscheide, als die Kontrollen nach § 22 Abs. 1a BPolG der Verhinderung oder Unterbindung unerlaubter Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet dienten, was sich zum Teil mit der Definition in der Verordnung Nr. 562/2006 decke, nach der mit den Grenzübertrittskontrollen festgestellt werden solle, ob die betreffenden Personen in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats einreisen dürften.

Unter diesen Umständen sei es Sache des AG Kehl zu überprüfen, ob die deutsche Regelung Konkretisierungen und Einschränkungen enthalte, die selbst hinreichend genau und detailliert sowie geeignet seien die Intensität, die Häufigkeit und die Selektivität der in dieser Vorschrift vorgesehenen Kontrollen zu lenken, um sicherzustellen, dass die praktische Ausübung der vom deutschen Recht eingeräumten polizeilichen Befugnisse nicht unter Verstoß gegen Art. 21 Buchst. a der Verordnung Nr. 562/2006 zu Kontrollen führe, die eine gleiche Wirkung wie Grenzübertrittskontrollen hätten.

Quelle: Pressemitteilung des EuGH v. 21.06.2017

Juni 2017