Der StGH Wiesbaden hat entschieden, dass ein Grundrechtskläger durch die Nichtzulassung der Berufung in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz verletzt wurde, indem der VGH Kassel durch übermäßig strenge Handhabung der Berufungszulassungsvorschriften den Anspruch des Antragstellers auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzt hat.

Der Antragsteller richtete sich mit seiner Grundrechtsklage gegen einen Beschluss des VGH Kassel, mit dem die Zulassung der Berufung gegen ein Urteil des VG Kassel abgelehnt wurde. Er rügte eine Verletzung des sich aus Art. 2 Abs. 3 HV ergebenden Rechts auf Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes.

Der Antragsteller legte im Jahr 2011 die staatliche Prüfung zum Physiotherapeuten ab. Die Gesamtnote wurde mit ausreichend festgelegt. Weil er eine Notenverbesserung erreichen wollte, legte der Antragsteller Widerspruch ein. Im Widerspruchsverfahren wurde die Prüfungsentscheidung zu Lasten des Antragstellers abgeändert, der Prüfungsbescheid aufgehoben und dem Antragsteller das Nichtbestehen der Prüfung eröffnet. Weiter wurde er darauf hingewiesen, dass die Wiederholungsprüfung innerhalb von zwölf Monaten nach dieser Entscheidung abgeschlossen sein müsse. Gegen diesen Bescheid erhob der Antragsteller Klage vor dem Verwaltungsgericht. Eine rechtskräftige Entscheidung über die Frage, ob die Erstprüfung bestanden wurde oder nicht, ist bisher noch nicht ergangen. Mangels sofortiger Vollziehbarkeit des Bescheides darf der Antragsteller zunächst weiter als Physiotherapeut tätig sein. Obwohl der Antragsteller davon ausging, dass die Zwölfmonatsfrist zur Ablegung der Wiederholungsprüfung noch nicht zu laufen begonnen hat, beantragte er vorsorglich deren Verlängerung beim Regierungspräsidium Darmstadt. Dies lehnte das Regierungspräsidium Darmstadt ab. Hiergegen erhob der Antragsteller Klage vor dem VG Kassel. Er berief sich vor allem auf eine Entscheidung des OVG Lüneburg, nach der die Anfechtung der Prüfungsentscheidung die Frist für die Ablegung der Wiederholungsprüfung hemme.

Die Klage wurde zurückgewiesen. Das Verwaltungsgericht ging davon aus, dass die Zwölfmonatsfrist bereits abgelaufen sei und keine Gründe für eine Verlängerung oder Ausnahme vorlägen. Daraufhin stellte der Antragsteller den Antrag auf Zulassung der Berufung gegen diese Entscheidung. Der VGH Kassel hatte diesen Antrag mit Beschluss vom 09.08.2016 abgelehnt. Weder Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung noch eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache seien gegeben. Daran ändere auch die Entscheidung des OVG Lüneburg nichts. Die Beantwortung der entscheidungserheblichen Rechtsfrage könne unter Heranziehung anerkannter Auslegungsmethoden unmittelbar aus dem Gesetz abgeleitet werden. Hiergegen wendete sich die Grundrechtsklage.

Der StGH Wiesbaden hat der Grundrechtsklage stattgegeben, die Entscheidung des VGH Kassel aufgehoben und die Sache an diesen zurückverwiesen.

Nach Auffassung des Staatsgerichtshofes wurde der Grundrechtskläger durch die Nichtzulassung der Berufung in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz aus Art. 2 Abs. 3 der Hessischen Verfassung verletzt, da der VGH Kassel durch übermäßig strenge Handhabung der Berufungszulassungsvorschriften den Anspruch des Antragstellers auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar verkürzt hat. Weil es zur entscheidenden Frage, die sich gleichermaßen bzgl. der Auslegung der insoweit wortgleichen Regelungen des § 8 Abs. 4 Satz 4 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für die Berufe in der Krankenpflege und des § 12 Abs. 4 Satz 3 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Rettungsassistentinnen und Rettungsassistenten stelle, noch keine Entscheidung des BVerwG gegeben habe und ein anderes Oberverwaltungsgericht hierzu eine andere Ansicht als der VGH Kassel vertreten habe, habe eine grundsätzliche Bedeutung nicht verneint werden können.

Hinzu komme auch, dass das VG Bremen die gleiche Auffassung wie das OVG Lüneburg vertreten habe. Außerdem weiche bereits das Urteil des VG Kassel ausdrücklich vom Wortlaut der Norm ab. Nach § 7 Abs. 4 Satz 4 der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung für Physiotherapeuten (PhysTH-APrV) muss die Wiederholungsprüfung spätestens zwölf Monate nach der letzten Prüfung abgeschlossen sein. Das VG Kassel stellte entgegen dem Wortlaut des § 7 Abs. 4 Satz 4 PhysTH-APrV für den Beginn der Frist auf die "Bekanntgabe" des Nichtbestehens ab, die vorliegend erst etwa ein Jahr nach der letzten Prüfung erfolgte. Durch die Zulassung der Berufung erhalte der Antragsteller auch die grundsätzliche Möglichkeit, nach einer Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs eine weitere Klärung durch das BVerwG im Revisionsverfahren herbeizuführen.

Quelle: Pressemitteilung des StGH Wiesbaden Nr. 5/2017 v. 16.08.2017

August 2017