Der VGH Mannheim hat entschieden, dass ein Turban tragender Sikh aus der Religionsfreiheit keinen strikten Anspruch auf Befreiung von der Helmpflicht beim Motorradfahren herleiten kann.

Der Kläger ist als getaufter Sikh (sog. Amritdhari) in der Öffentlichkeit zum Tragen eines Turbanes, eines sog. Dastar, religiös verpflichtet. Weil er nicht gleichzeitig den Turban und einen Motorradhelm tragen könne, beantragte er 2013 bei der Stadt Konstanz (Beklagte), ihn nach § 46 Abs. 1 Satz 1 Nr. 5b StVO von der in § 21a Abs. 2 StVO geregelten Pflicht zum Tragen eines Schutzhelmes beim Führen eines Kraftrades zu befreien. Die Beklagte lehnte dies mit der Begründung ab, eine Ausnahmegenehmigung könne nur erteilt werden, wenn das Tragen eines Helmes aus gesundheitlichen Gründen nicht möglich sei. Dementsprechend hatte die Beklagte 2011 und 2015 einen anderen Motorradfahrer wegen Genickschmerzen von der Helmpflicht befreit.

Die Berufung des Klägers vor dem VGH Mannheim hatte nur teilweise Erfolg. Der VGH Mannheim hat entschieden, dass die Beklagte das ihr eingeräumte Ermessen bei der Ablehnung des Antrages auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung bislang noch nicht fehlerfrei ausgeübt hat, weshalb sie über den Antrag nochmals neu entscheiden muss. Die Beklagte ist aber nicht wegen der Religionsfreiheit zwingend verpflichtet, dem Kläger die beantragte Ausnahme von der Helmpflicht zu genehmigen.

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs war die Ablehnung der beantragten Ausnahmegenehmigung wegen einer fehlerhaften Ermessensausübung rechtswidrig, weil die Beklagte nicht deutlich gemacht hat, dass eine Befreiung von der Schutzhelmpflicht nicht nur bei einer Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen, sondern auch aus religiösen Gründen in Betracht kommt. Der Kläger könne auch deshalb von der Beklagten eine neue Entscheidung über seinen Befreiungsantrag verlangen, weil diese erst im Juli 2017 ihre bisherige Verwaltungspraxis aufgegeben habe, nach der bei einer Unmöglichkeit des Tragens eines Helmes aus gesundheitlichen Gründen eine Befreiung ohne weitere Voraussetzungen erteilt worden sei. Wenn sie nun vortrage, zukünftig bei Befreiungsanträgen "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich zu hinterfragen", bliebe unklar, was genau sie künftig prüfen wolle. Jedenfalls habe sie im Fall des Klägers eine solche Prüfung bislang auch noch nicht vorgenommen.

Ein strikter Anspruch auf Erteilung der beantragten Ausnahmegenehmigung sei aber zu verneinen, da die Erteilung der Befreiung im Ermessen der Beklagten stehe und ihr deshalb eine gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbare Entscheidungsfreiheit zustehe. Dieses Ermessen sei im Fall des Klägers auch nicht "auf Null reduziert". Vielmehr sei es rechtlich nicht ausgeschlossen, dass die Behörde den Befreiungsantrag des Klägers ablehne. Allerdings müsse sie – anders als bisher – dabei beachten, dass die Unmöglichkeit des Helmtragens aus gesundheitlichen Gründen nicht großzügiger behandelt werden dürfe als eine Unmöglichkeit des Helmtragens aus religiösen Gründen. Es sei entgegen der Ansicht des Klägers verfassungsrechtlich unbedenklich, dass die Schutzhelmpflicht auch im Anwendungsbereich der Glaubensfreiheit eines Motorradfahrers nicht in einem Parlamentsgesetz, sondern in einer Rechtsverordnung (StVO) geregelt sei. Eine Ermessensreduzierung folge auch nicht aus der Glaubensfreiheit des Klägers (Art. 4 Abs. 1 und 2 GG). Zwar greife die Schutzhelmpflicht in seine Glaubensfreiheit ein, indem er als Sikh wegen der Helmpflicht nicht Motorrad fahren dürfe.

Der in der Schutzhelmpflicht liegende Eingriff könne allerdings durch den von der Schutzhelmpflicht (auch) bezweckten und zudem in Art. 2 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich verbürgten Schutz der physischen und psychischen Integrität Dritter gerechtfertigt werden, sodass die Glaubensfreiheit des Klägers nicht automatisch eine Verengung des behördlichen Entscheidungsermessens im Sinne einer zwingend zu genehmigenden Ausnahme zur Folge habe. Ein durch einen Helm geschützter Motorradfahrer werde im Fall eines Unfalles regelmäßig eher als ein nicht geschützter Fahrer in der Lage sein, etwas zur Abwehr der mit einem Unfall einhergehenden Gefahren für Leib und Leben anderer Personen beizutragen, indem er etwa die Fahrbahn räume, auf die Unfallstelle aufmerksam mache, Ersthilfe leiste oder Rettungskräfte herbeirufe. Die Schutzhelmpflicht fördere aber nicht nur die physische Unversehrtheit Dritter, sondern schütze auch deren psychische Unversehrtheit, wenn man bedenke, dass Unfallbeteiligte durch schwere Personenschäden anderer Unfallbeteiligter nicht selten selbst psychische Schäden davontrügen. Von diesem Risiko sei angesichts von Unfällen mit Motorradfahrern ohne Helm auszugehen, bei denen bekanntermaßen häufig schwerwiegende, zum Teil auch tödliche Kopfverletzungen die Folge seien. Auch ergebe sich eine Reduzierung des behördlichen Ermessens nicht aus dem Gleichbehandlungsgebot des Art. 3 Abs. 1 GG. Da eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus gesundheitlichen Gründen jedenfalls nicht schwerer wiegen könne als eine Unmöglichkeit des Schutzhelmtragens aus religiösen Gründen, spreche zwar einiges dafür, dass der Kläger gegenüber der Beklagten angesichts ihrer bisherigen Befreiungspraxis einen Anspruch auf Gleichbehandlung gehabt habe. Die Beklagte habe aber während des laufenden Berufungsverfahrens ihre frühere Verwaltungspraxis willkürfrei aufgegeben und wolle nunmehr vor einer Befreiung "die Notwendigkeit des Motorradfahrens an sich hinterfragen"; damit scheide ein Anspruch auf Gleichbehandlung nunmehr aus. Auch der Umstand, dass in Einzelfällen andere Straßenverkehrsbehörden in der Vergangenheit Sikhs aus religiösen Gründen von der Schutzhelmpflicht befreit hätten, vermittele dem Kläger keinen Befreiungsanspruch gegen die Beklagte. Denn diese sei durch solche andernorts getroffenen Einzelfallentscheidungen nicht gebunden. Das Gleichheitsgebot verlange nur, dass die Beklagte in ihrem örtlichen Zuständigkeitsbereich gleichmäßig entscheide.

Die Revision zum BVerwG wurde wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen. Diese kann sowohl vom Kläger als auch von der Beklagten binnen eines Monats nach der Zustellung des Urteils eingelegt werden.

Quelle: Pressemitteilung des VGH Mannheim Nr. 38/2017 v. 04.09.2017

September 2017