Versammlungsverbot: Anforderungen an Gefahrenprognose

Das VG Kassel hat entschieden, dass die in Fulda geplante Versammlung "Heimat bewahren – für einen deutschen Sozialismus" stattfinden kann, weil als Grundlage der Gefahrenprognose für das Versammlungsverbot konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich sind und bloße Vermutungen nicht ausreichen.

Der Antragsteller des Verfahrens hatte am 12.08.2017 beim Ordnungsamt der Stadt Fulda eine Versammlung unter freiem Himmel für den 26.08.2017 mit dem Thema "Heimat bewahren – für einen deutschen Sozialismus" angemeldet. Die Stadt verbot diese Versammlung mit Bescheid vom 21.08.2017 und ordnete die sofortige Vollziehung des Verbots an. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass bei der Durchführung der Versammlung mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei, dass durch Teilnehmer der Veranstaltung der Tatbestand der Volksverhetzung erfüllt und zur Beseitigung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufgerufen werde.

Das VG Kassel hat die aufschiebende Wirkung eines Widerspruchs des Antragstellers gegen das Versammlungsverbot wiederhergestellt, so dass die Versammlung stattfinden kann.

Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts erweist sich das Versammlungsverbot als rechtswidrig, da die in § 15 Abs. 1 Versammlungsgesetz (VersG) normierten Voraussetzungen für das im Bescheid angeordnete Versammlungsverbot nicht vorliegen. Nach dieser Vorschrift könne die zuständige Behörde eine Versammlung oder einen Aufzug verbieten oder von bestimmten Auflagen abhängig machen, wenn nach den zur Zeit des Erlasses der Verfügung erkennbaren Umständen die öffentliche Sicherheit oder Ordnung bei Durchführung der Versammlung oder des Aufzuges unmittelbar gefährdet sei. Unter Berücksichtigung der Bedeutung der Versammlungsfreiheit dürfe die Behörde bei dem Erlass von vorbeugenden Verfügungen keine zu geringen Anforderungen an die Gefahrenprognose stellen. Daher müssten zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung erkennbare Umstände dafür vorliegen, aus denen sich die unmittelbare Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung ergebe. Als Grundlage der Gefahrenprognose seien konkrete und nachvollziehbare tatsächliche Anhaltspunkte erforderlich; bloße Vermutungen reichten nicht aus. Diesen Vorgaben werde das angefochtene Versammlungsverbot der Antragsgegnerin nicht gerecht.

Zwar sei der Wertung der Stadt zuzustimmen, dass sowohl der zu erwartende Teilnehmerkreis der angemeldeten Versammlung als auch die veranstaltende Partei selbst dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnen sei. Dies ergebe sich nicht zuletzt aus den von der Stadt angeführten Berichten der Verfassungsschutzbehörden und des Bundesinnenministeriums. Gleichwohl ließen sich weder aus dem Teilnehmerkreis bzw. dem Veranstalter noch aus dem gewählten Thema der Versammlung und auch nicht aus den geplanten Rednern bzw. Versammlungsleitern Rückschlüsse ziehen, die eine Gefahrprognose dergestalt zuließen, dass mit der Begehung von Straftaten wie z.B. Volksverhetzung sicher zu rechnen sei. Die Gefahr der Verwirklichung von Straftaten sei vielmehr spekulativ. Im Hinblick auf das gewählte Thema der Veranstaltung unter Berücksichtigung deren näherer Beschreibung erscheine es – auch in Ansehung der eindeutig ausländerfeindlichen Wortwahl – nicht hinreichend wahrscheinlich, dass Straftaten nach den §§ 130 und 185 StGB begangen würden. Es sei vielmehr davon auszugehen, dass sich der Teilnehmerkreis mit aktuellen politischen Themen, insbesondere der Flüchtlingspolitik, auseinandersetzen werde – wenn auch unter Vertretung politisch radikaler Positionen. Es sei zwar nicht ausgeschlossen, dass hierbei Straftaten nach den §§ 130 und 185 StGB begangen würden. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit hierfür bestehe indes nicht, zumal der Veranstalter hierzu auch nicht aufgerufen habe.

Weiterhin sei nicht erkennbar, dass es bei Demonstrationen der veranstaltenden Partei in der jüngeren Vergangenheit zur Begehung von Straftaten der seitens der Stadt genannten Art gekommen ist. Es sei zwar nicht auszuschließen, dass einzelne Personen des zu erwartenden Teilnehmerkreises in der Vergangenheit die Straftatbestände der §§ 130 und 185 StGB verwirklicht hätten. Dass dies indes auch bei Versammlungen der Fall gewesen sei, sei weder aus dem Vorbringen der Verfahrensbeteiligten noch sonst wie ersichtlich.

Dem stehe auch nicht der Inhalt der in dem Bescheid zitierten Redebeiträge des Versammlungsleiters und des stellvertretenden Versammlungsleiters – Antragsteller des vorliegenden Verfahrens – bei thematisch ähnlich gelagerten Veranstaltungen am 23.02.2017 in Würzburg und am 01.05.2017 in Gera entgegen. Nach der gebotenen summarischen Beurteilung der Sach- und Rechtslage dürften die genannten Inhalte die Grenze zur Verwirklichung der Straftatbestände der Volksverhetzung und der Beleidigung nach Ansicht des Verwaltungsgerichts (noch) nicht überschreiten. Hierfür spreche auch, dass die Stadt nicht dargelegt habe, dass aufgrund der genannten Äußerungen strafrechtliche Ermittlungsverfahren eingeleitet worden seien bzw. rechtskräftige Verurteilungen vorlägen.

Soweit die Stadt auf die angemeldeten Kundgebungsmittel (Megafone, Fahnen, Transparente, Seitentransparente, Schilder mit aufgeklebten Plakaten, Fackeln, Rauch- und Signalfackeln) verweise, könne selbst der unterstellte Verstoß gegen Rechtsvorschriften ein (Komplett-)Verbot der Versammlung nicht rechtfertigen. Dem wäre vielmehr durch entsprechende Auflagen als milderes Mittel im Vorfeld der Versammlung entgegenzutreten gewesen.

Gegen den Beschluss kann Beschwerde eingelegt werden.

Quelle: Pressemitteilung des VG Kassel Nr. 6/2017 v. 24.08.2017

August 2017